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Falsche Hoffnungen in die Inklusion

Inklusion ist in aller Munde. Der Traum vom verschmelzen der Gesellschaft zu einer Gruppe. Eine Gesellschaft ohne Randgruppen. Rahmenbedingungen schaffen, dass jeder Mensch dazu gehört. Eine schöne Sache. Es ist ein Hoffnungsschimmer für all die jenen, die sich bis jetzt von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlten.

Doch immer wieder geht der Schuss nach hinten los. Eltern nehmen frustriert ihre Kinder aus dem Inklusiven Unterricht zurück. Beeinträchtigte verlassen enttäuscht inklusive Angebote. Was läuft da schief, und warum werden einige Hoffnungen eben nicht erfüllt?

Ich bin kein Theoretiker, sondern komme aus der Praxis. Ich leben als Behinderter seit über 20 Jahren nahezu ausschliesslich unter Nichtbehinderten. Ich machte unter Nichtbehinderten Sport, bin in der Software Entwicklung aktiv, nehme am Dorfleben teil. In meinem 2300 Seelen Dorf kennen mich fast alle, und wenn mich Leute mal länger nicht sieht, fragen sie mich, wo ich denn war. Man vermisst mich also. Ich habe also das geschafft wovon viele träumen.

Hoffnung auf Normalität

Viele Behinderte leiden unter dem „anders sein.“ Sie fühlen sich dadurch nicht zugehörig, Viele stecken in Inklusion die Hoffnung, dass damit auch Normalität einkehrt. Der Gedankengang ist relativ einfach. Wenn man nicht mehr separiert ist, fühlt man sich automatisch normaler.

Oft wird dann auch noch versucht, so normal wie möglich zu erscheinen, bewusst oder unbewusst nicht den Behinderten zu sein, und das geht dann mächtig in die Hose. Inklusion kann vieles, aber sie bringt keine Normalität. Sie lässt auch die Behinderung nicht verschwinden. Sie verstärkt sie sogar!

Ok, ein Beispiel: Ich machte einige Jahre an ganz normalen Wettkämpfen in der Leichtathletik mit. Was glaubt ihr, wo mir meine Behinderung mehr auffällt, wenn ich an einem Behindertensport Event startete oder an einem der Nichtbehinderten. Natürlich an dem der Nichtbehinderten. Da fällt mir das anders sein viel mehr auf. Wenn ich unter Behinderten bin, sind ja alle irgendwie anders.

Andersartigkeit ist eine Chance

Und dennoch war es wichtig, dass ich an diesen Wettkämpfen teilgenommen habe. Gerade weil ich anders bin. Organisatoren bedankten sich bei mir fürs Erscheinen, und ich wurde sogar an Events eingeladen. Ich hatte Vorbildcharakter für viele, auch für Spitzensportler. Nicht etwa wegen den Platzierungen. Da war ich immer ganz hinten. Sondern wegen meinem unermüdlichen Kämpferwillen. Die Bereitschaft alles zu geben, war mein Markenzeichen und das rüttelte viele auf.

Diese Vorbildfunktion hätte ich nicht wahrnehmen können, wenn ich die ganze Zeit den Nichtbehinderten Sprintern hinterher getrauert hätte. Inklusion ist kein Trostpflästerchen für eine nicht akzeptierte Behinderung. Sie kann auch nicht aus Behinderten Menschen Nichtbehinderte machen. Sie bringt auch nicht die Normalität zurück.

Wer aber die positiven Seiten des „Anders sein“ lebt, und diese in die Gesellschaft einbringt, der wird nicht nur dabei sein, sondern vielleicht auch eine unersetzliche Rolle übernehmen.

Warum Home Office für einige Behinderte die Zukunft ist.

Dienstag Abend um 17:30. Wir hatten gerade eine Sitzung in Chur, Andri und ich machen sich auf den Heimweg. Wir sind in einem vollgestopften Pendelzug von Chur nach Landquart. Zum Glück geht diese Strecke nicht mal 10 Minuten. Mir wird wieder mal vor Augen geführt, wie es Pendler haben.

Pendeln ist schon für Nichtbehinderte keine schöne Sache, doch für Behinderte kann das echt der Horror sein. Ich musste zum Glück nur einmal in meinem Leben pendeln. Damals von Hünenberg (ZG) nach Zürich während einer IV Abklärung.

Home Office
Mein Home Office

Mein Alltag heute ist da viel entspannter. Erst mal in den 80m entfernte Dorfladen gehen, und mir was zum Frühstück holen. Dann gemütlich in das online Büro einloggen, und mit der Arbeit beginnen. Dabei bin ich auch gar nicht an den Tag gebunden. Ich kann auch in der Nacht oder am Wochenende arbeiten.

Ich würde eine fünf Tage Woche nicht durchstehen. Dennoch habe ich für die Vefko auch schon 52h die Woche gearbeitet. Bei mir wäre es so, dass ein schöner Teil meiner Energie schon beim Pendeln verloren gehen würde. Diese hätte ich beim arbeiten nicht mehr zur Verfügung. Das wäre komplett ineffizient.

Integration durch Arbeit

In unserer Gesellschaft hat arbeiten einen grossen Stellenwert. Eine der ersten Fragen wenn man jemand kennen lernt ist: „Was machst du beruflich?“ Es ist recht unangenehm, diese Frage nicht beantworten zu können. Daher versuchen auch de Behinderten, diese Lücke mit irgendetwas zu schliessen. Auch wenn es ein Arbeitsplatz im geschützten Bereich ist, Hauptsache man kann dem anderen sagen, dass man nicht nur faul rumsitzt.

Es gab schon Leute die stellten das Vefko Konzept in frage. Vereinsamt man nicht, wenn man nur noch von zu Hause aus arbeitet? Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, denn es kann tatsächlich passieren. Aber mal Hand aufs Herz, wie viele Arbeitskollegen sind auch private Kollegen? Vermutlich eher weniger. Klar trifft man sich hin und wieder mal mit seinen Arbeitskollegen zu einem Essen. Aber der private Filmabend geniesst man dann schon eher mit anderen Leuten oder nicht?

Die Integration durch Arbeit hat also weniger einen sozialen Aspekt, es geht eher um die Anerkennung von aussen, dass man auch etwas zur Gesellschaft beiträgt. Und da spielt es nun wirklich keine Rolle, ob man täglich zum Büro pilgert, oder ob man von zu Hause aus arbeitet.

Mit Home Office die Energie besser einteilen

Als ich damals in der IV Abklärung war, musste ich mich jedes mal aufraffen, um ins Training zu gehen. Ich war damals aber erst 19 Jahre alt, und körperlich, mal abgesehen von der Behinderung topfit. Heute würde es mir nach so einem Arbeitstag vermutlich wie vielen anderen Behinderten gehen. Nach dem ich zu Hause bin, wäre ich erst mal fertig mit mir und der Welt und hätte überhaupt keine Kraft mehr für Freizeitaktivitäten.

Heute sieht es bei mir anders aus. Gerade wenn ich viel gearbeitet habe, verspüre ich den Wunsch nach einer alternativen Aktivität. Sei es das Dorffest, das Training oder auch nur einen gemütlichen Schwatz mit den Nachbaren. Und genau das sind Kernbausteine für eine richtige integration in der Gesellschaft.

Für einige Behinderte dürfte Home Office erst die Chance bieten, den Beruf und die Freizeit unter einen Hut zu bringen, daher sehe ich darin eine grosse Zukunft.