Die Welt war zu diesem Zeitpunkt in Ordnung. Ich hatte Freunde, mein Unihockeyclub, und auch mit der Behinderung hatte ich mich arrangiert. Ich wusste zwar, dass ich diese für immer haben werde, das war aber ok für mich. Ich war mal wieder nach der Schule mit meinem Fahrrad in Richtung Basketballplatz unterwegs. Ich hatte keine Ahnung dass an diesem Tag Sport für mich eine ganz andere Bedeutung bekommt.
Es begann mit einer ganz normalen Szene unter dem Korb, wie sie halt hunderte male passiert. Ich sprang hoch um mir den Rebound zu holen. Für alle die jetzt Basketball nicht kennen, ein Rebound ist der Ball der nach einem missglückten Wurf vom Korb abprallt. Ich bin relativ klein, ausserdem auch nicht der Sprungstärkste. Normalerweise holte ich die Rebounds nicht, und wenn ich es doch mal schaffte machte ich nach der Landung meist Schrittfehler. Doch dieses mal meisterte ich das souverän.
Ich spielte an jenem Abend einfach wesentlich besser. Es war nicht einfach nur eine gute Phase. Irgendwann schrie ein Freund der im Gegenteam spielte halb frustriert, hab begeistert: „Verdammt Raphi, was ist los mit dir! du spielst ja viel besser als sonst!“ Das brauchten sie mir nicht zu sagen, das merkte ich ja selbst. In der Pause sprachen mich die Jungs noch mal an. „Mal im Ernst Raphi, irgendwas ist anders, was ist los?! Vorhin hatten wir einen Zusammenstoss in der Luft, und du spielst einfach weiter, als ob nichts gewesen wäre. Normalerweise fällst du doch da um.“ „Ich glaube, ich habe mehr Gleichgewicht“, meinte ich leise.
Zum ersten mal seit einem Jahrzehnt wurde ich mit dem Thema Fortschritte konfrontiert. Mich traf dieses Thema sehr, da ich eigentlich damit abgeschlossen hatte. Für mich waren Fortschritte immer mit der Intensivtherapie nach Doman verbunden, die meine Eltern im frühen Kindesalter mit mir machten. Aber was hat diesen Fortschritt ausgelöst. Es war Schulferien, und ich hatte keine Physio. Aber ich war jeden Tag sicher drei Stunden am trainieren. Hat der Sport diese Fortschritte ausgelöst?! Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken herunter. Erst allmählich wurde mir klar, was da passiert.
Die Wahrheit war, ich machte tonnenweise Fortschritte, ich hab sie einfach nicht erkannt. Ich hatte in den Jugendjahren nur ein Ziel, so nah wie möglich an die Leistung der Nichtbehinderten ranzukommen. Ich war so auf die Leistung der Nichtbehinderten fokussiert, das ich meine Fortschritte schlicht übersah. „Wenn Sport Fortschritte mit sich bringt… was passiert, wenn ich weiter trainiere? Dann müsste die Behinderung ja irgendwann wegtrainiert sein.“ Dieser Gedanke liess mich nicht mehr los. Nicht weil ich unbedingt normal gehen wollte, sondern weil von dem Gedanken für mich eine unglaubliche Kraft ausging. Bis dahin war mein Ziel, irgendwann mal ein internationaler Behindertensportler zu sein. Man hat als Jugendlicher da so Bilder vor sich, wie man an den Paralympics mit dem Trikot der Schweizer Nationalmannschaft in die Arena einläuft. Die Vorstellung vom Empfang am Flughafen, wenn man – als Held gefeiert – wieder Heimischen Boden betritt. Die Autogramme die man geben kann, die Vorbildfunktion die einem zukommt, das sind tolle Gedanken. Aber der Ruhm im Sport ist sehr vergänglich. Die Helden von heute sind morgen schon vergessen.
Und was sind ein paar Goldmedaillen gegen das andere Ziel. Ich meine, ICP gilt als unheilbar. Was würde es für eine Welle nach sich ziehen, wenn ich die Mauer „Unheilbar“ niederreissen könnte. Dieser Gedanke war gerade zu Übermächtig. Das Risiko zu scheitern ist unendlich gross. „Wenn du das nicht versuchst, wirst du das vielleicht dein Leben lang bereuen. Du wärst ein verdammter Feigling“ sagte ich zu mir. „Du musst es versuchen, egal wie bitter, egal wie hart es wird. Du musst es tun, für dich und für die anderen ICP’ler!“ Sagte ich während mir die Tränen runterliefen.
An jenem Abend fällte ich eine Entscheidung meines Lebens. Ich nahm den Kampf mit meiner Behinderung auf. Und genau dieser Kampf ist der Grund, warum ich meine Geschichte in Blogform mache. Denn sie ist noch nicht Abgeschlossen. Heute weht die Schlachtfahne mehr denn je. Diese Geschichte hat erst letztens auf Sport of Hope begonnen.